Montag, 8. April 2013

Meine Cousine und ihre LRS




In meinen ersten Posts habe ich ja schon erwähnt, dass ich sehr viel Zeit mit meiner Cousine verbrachte. Sie war und ist der Mensch, der von Anfang an immer an meiner Seite war. Ich habe sie nie als meine beste Freundin gesehen, obwohl wir die meiste Zeit miteinander verbrachten. Sie war einfach meine Cousine und das war auch gut so. Ich habe sie als Kind immer bewundert. Sie war so erfrischend, so frei heraus. Sie hatte soviel Energie (und das bis heute noch) ins sich und konnte einen damit auch teilweise ganz schön anstecken. Oftmals wurde es mir auch zuviel. Ich genoss die Zeit, die ich mit ihr verbrachte, so lange es eine ruhige Zeit war. Natürlich ist es schwer, diesem Energiebündel viel ruhige Zeit abzugewinnen, aber da ich immer nur in den Nachmittagsstunden bei ihr war, hielt es sich in Grenzen. So konnte sie sich morgens in Kindergarten/Schule schon einmal ordentlich auspowern und wir konnten die erste Zeit immer ruhig angehen. Oftmals sah ich ihr einfach auch nur zu, wenn sie wieder so energiegeladen umher lief. Was hätte ich damals dafür gegeben, einmal so zu sein, wie sie.
Meine Cousine wurde ein Jahr nach mir eingeschult und ich freute mich bereits darauf, endlich in den Pausen jemanden an meiner Seite zu haben. Ich war ja ein sehr ruhiges Kind, auch in der Schule und Freunde hatte ich im ersten Schuljahr noch keine gefunden, außer unseren Nachbarsjungen. Aber dieser ging halt morgens nur mit mir gemeinsam zur Schule und anschließend auch wieder nach Hause. Nachmittags haben wir manchmal zusammen gespielt, aber in der Schule war es so, als würden wir uns nicht kennen. Zumindest war dies mein Eindruck und so verbrachte ich in der ersten Klasse meine Pausen immer nur allein mit meinem Schulbrot und wartete auf den erlösenden Gong, das es endlich im Unterricht weiterging. Als dann endlich meine Cousine eingeschult wurde, änderte sich meine Einstellung zu den Pausen. Plötzlich war immer jemand an meiner Seite und ich fand kaum noch Zeit, mein Brot zu essen. Ich fing an, dass mir die Schule Spass machte. Ich war eine Durchschnittsschülerin im ersten Schuljahr. Ich lernte Lesen und Schreiben und hatte keine Schwierigkeiten, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Nur mündliche Beteiligung fehlte halt.
Zu meiner Schulzeit gab es ja noch Zensuren ab der 1. Klasse und auch samstags fand noch Unterricht statt. Meine Zensuren lagen alle bei 3 und 4. Besser ging es halt nicht. Wobei ich die Hauptfächer mit 3 absolvierte und die Nebenfächer alle eine 4 abbekamen. Meine Cousine hingegeben brachte in der 1. Klasse nur Einser mit nach Hause und dementsprechend sah auch ihr Zeugnis aus. Wow, so ein Zeugnis wollte ich auch haben und so fing ich an, mehr an mir und meinen Leistungen zu arbeiten. Es funktionierte.
Ich werde den Tag nie vergessen, meine Cousine war nun in der 2. Klasse und ich kam nachmittags zu ihr und fand sie nirgends. Niemand wusste, wo sie war. Keiner hatte sie nach der Schule mehr gesehen. Irgendwann fand ich sie im Haus ihrer Eltern hinter dem Sofa versteckt. Sie sah total verheult aus. Dann erzählte sie mir, dass sie eine 5 im Diktat geschrieben hat und sich nicht traute, es ihren Eltern zu sagen. Ich ging zu meinem Onkel und erzählte es ihm. Es gab natürlich keinen Ärger, wie von meiner Cousine erwartet. Aber von diesem für sie wohl schockierendem Ereignis, fing sie an zu stottern. Zumindest ist es mir da zum ersten Mal aufgefallen. Die Stotterei wurde ihr plötzlich zum „Verhängnis“. Sie wurde von allen Kindern gehänselt. In der Schule ging es bergab. Meine Cousine brachte keine Note, die besser war als 4, mit nach Hause. Diktate waren mit einer 5 schon etwas Gutes. Himmel, was war nur passiert. Sie war in der 1. Klasse eine super gute Schülerin, nur Einser und nun dies. Mein Onkel und meine Tante fingen auch an, sich Gedanken zu machen und fuhren mit meiner Cousine von einem Arzt zum nächsten, angefangen beim Kinderarzt, HNO, Psychiater, etc. Nach fast einem Jahr wurde bei meiner Cousine eine Lese- und Rechtschreibschwäche festgestellt. Während ich immer besser wurde in der Schule (zumindest, was meinen Notendurchschnitt anging), verschlechterte sich bei meiner Cousine anfangs alles. Es wurde über einen Schulwechsel nachgedacht. Für mich ging die Welt unter. Aber alle haben die Rechnung ohne meine Cousine aufgemacht. Sie ist eine Kämpferin. Neben ihren Therapien, die sie von nun an bekam, fragte sie mich, ob ich ihr beim Lernen helfen könnte. Natürlich machte ich dies. In der Schule entwickelte sie ihre eigenen Praktiken, damit sie den Klassenerhalt schafft und nicht die Schule wechseln musste. So ging sie frei heraus zu ihren Lehrern und besprach mit denen, ob es in Ordnung wäre, das sie der Lehrerin z.B. bei Aufsätzen diesen diktieren könnte, dann wären keine Fehler drin und die Lehrerin könne sich voll und ganz auf den Inhalt des Aufsatzes konzentrieren. Die Lehrer waren so begeistert, das die Diagnose meine Cousine nicht auch in ein tiefes Loch stürzte und unterstützten sie, gaben ihr Hilfestellungen und Arbeitserleichterungen, dass meine Cousine weder die Schule wechseln musste, noch ein Schuljahr irgendwann wiederholte. Sie blieb zwar die ganzen Jahre „nur“ auf der Hauptschule, aber sie hatte einen Abschluss und fand auch schnell eine Ausbildungsstelle. In all den Jahren habe ich meine Cousine versucht zu unterstützen und sie hat es mir immer gedankt, in dem sie auch mir immer helfend zur Seite stand. Aus uns wurde ein gutes Team und das sind wir auch heute noch. Nur sehen wir uns natürlich seltener, aber wir sind immer füreinander da.
Trotz alledem habe ich noch nie mit ihr über meine Gefühls- und Gedankenwelt gesprochen. Sie hat mich immer so angenommen wie ich war/bin. Vor einigen Jahren hat sie mir sogar erzählt, dass ich immer ihr Vorbild war in all den Jahren und sie sich oftmals gewünscht hätte, so zu sein wie ich. Ob dies wirklich so stimmt, wer weiß….aber es war ein gutes Gefühl zu Wissen, das es Menschen gibt, die einen so mögen, wie man ist und sich nicht verstellen muss.

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