Mittwoch, 26. Juni 2013

Mein Freund, der Spiegel...

Eigentlich müsste ich in den nächsten Tagen mal wieder zum Friseur. Aber ich schiebe es irgendwie immer wieder hinaus. Es gibt gewissen Dinge beim Friseurbesuch, die in mir absolutes Unbehagen hervorrufen. Zum einen dieser Smalltalk.
Wenn es nach mir geht, ist das Gespräch in dem Moment beendet, wenn ich der Friseuse gesagt habe, was sie mir für eine Frisur verpassen soll. Aber nein, die Friseusen müssen ja immer bei ihrer Arbeit reden. Wahrscheinlich aus reiner Höflichkeit dem Kunden gegenüber. Ich wiederum finde es unhöflich, wenn ich ihr mitteilen würde, dass ich an einem Gespräch nicht interessiert bin. Also antworte ich nur, wenn ich etwas gefragt werde. Meistens hören diese Gespräche dann nach kurzer Zeit auf und sie widmet sich ganz meinem Haarschnitt. Dann kommt schon wieder mein schlechtes Gewissen zum Vorschein und die Friseuse tut mir etwas leid, da ihre Kolleginnen sich angeregt mit ihrer Kundschaft unterhalten und meine „Auserwählte“ eine sehr wortkarge Arbeit ausführen muss. Also beginne ich wieder zu überlegen, was ich so an alltägliches unnützes Zeug von mir geben könnte. So vergeht meist die ganze Zeit, ohne das mir auch nur ein Wort von den Lippen kommt. Um mein schlechtes Gewissen dann etwas zu erleichtert, gibt es immer etwas Trinkgeld dazu. So hoffe ich immer, das ich einen nicht ganz schlechten Eindruck hinterlasse und beim nächsten Mal auch wieder freundlich bedient werde.
Dann ist noch dieser Blickkontakt, dem man ausgesetzt ist, wenn man vor einem dieser Spiegel sitzt. In diesem Moment bin ich fast gezwungen, mir in die Augen zu schauen. Am liebsten würde ich meine Augen während dieser ganzen Prozedur schließen, aber dann mache ich mir wieder Gedanken, was wohl die Friseuse gerade denkt, wenn ich jetzt einfach meine Augen schließe. Damit ich so schnell als möglich immer wieder aus dem Friseursalon rauskomme, lasse ich mir die Haare nur schneiden. Aber gelegentlich lasse ich sie mir auch tönen, und dann ist es eine endlose Qual für mich. Ich finde den Besuch beim Friseur noch schlimmer, als die Arztbesuche, wenn man unendlich lange im Wartezimmer sitzen muss. Beim Friseursalon sind es aber wohl hauptsächlich diese Zigtausende von Spiegeln, die man dort ausgesetzt ist. Immer und überall, egal wie man geht und steht, sieht man irgendwelche Gesichter und macht sich wieder unnötige Gedanken.

Zuhause habe ich Spiegel nur dort, wo sie unbedingt nötig sind. Also in den Bädern und im Schlafzimmer am Schrank. Diesen großen Spiegel am Schrank benötige ich, da ich bei der Anprobe immer sehr unsicher bin, ob ich dieses oder jenes auch ruhig tragen kann und so muss der Spiegel mir immer die  Antwort darauf geben. Ansonsten findet dieser Spiegel bei mir kaum Beachtung, er dient mir einfach nur zur Sicherheit, damit ich mich von Kopf bis Fuß komplett eingekleidet sehen kann. Sonst würde ich total unsicher das Haus verlassen, einfach aus Angst, dass ein Kleidungsstück nicht richtig sitzt oder die zusammengestellte Kombination nicht wirklich zusammenpasst. Es kommt auch vor, dass ich zwei bis dreimal hintereinander kontrolliere, ob auch wirklich noch alles richtig sitzt bzw. ich auch wirklich so gekleidet bin, das ich mich damit auch zeigen kann. Das hat keineswegs etwas mit Eitelkeit zu tun, denn das bin ich ganz und gar nicht. Es ist einfach diese Unsicherheit. Aufgrund meiner ganzen Eigenschaften fehlt es mir einfach an gewissen Stellen an Selbstbewusstsein und dann möchte ich wenigstens in einigen Punkten rein äußerlich wenigstens nicht auch noch für unnötigen Gesprächsstoff sorgen.
Auch beim Autofahren empfinde ich den Rückspiegel als äußerst unangenehm, wenn ich hinten im Auto sitze. Ich habe dann ständig das Gefühl, das ich vom Fahrer beobachtet werde. Natürlich konzentriert dieser sich dabei auf den Straßenverkehr und dazu gehört natürlich auch der Blick in den Rückspiegel, aber wenn ich genau in diesem Moment in diese Richtung schaue und den Blick des Fahrers bemerke, fühle ich mich auf irgendeine Art und Weise ertappt, obwohl ich ja gar nichts gemacht habe. Am schlimmsten ist dies natürlich, wenn es sich dabei um einen Fahrer handelt, den man nicht wirklich gut kennt, z.B. Taxifahrer oder ein Partner eines guten Freundes, mit dem man nicht so häufig zusammentrifft. Bei meinem Mann bzw. guten Freunden stört mich dies weniger, wahrscheinlich, weil ich dann auch den Blick nicht so häufig in Richtung dieses Spiegels habe.
Wahrscheinlich ist der Spiegel auch einer der Gründe, warum ich mich nur relativ selten schminke. Ich kann es einfach nicht so lange ertragen, dem Blick des Spiegels standzuhalten und beim Schminken brauch man nun mal eine gewisse Zeit. Aber hin und wieder muss ich mich dann auch dazu überwinden. Aber ich würde mich nie freiwillig dieser täglichen Prozedur aussetzen. Von daher nur, wenn es wirklich sein muss.
Ich werde mich wohl nie mit einem Spiegel anfreunden können, aber zum Glück muss ich das auch nicht…




Montag, 24. Juni 2013

Unbewusste Hilfestellungen

Wenn man sich heutzutage darüber unterhält, ob man noch eine Diagnostik anstreben sollte, dann hört man oftmals die Kommentare: „Wozu denn, bist doch bisher gut durchs Leben gekommen“ oder „Immer diese Trittbrettfahrer“ oder „Wieder so eine Modediagnose?“ oder “Diese Macken sind  doch wahrscheinlich nur durch dein Kind auf dich abgefärbt“. Zum Glück musste ich mir dies noch nicht anhören, aber ich habe es schon von anderen in einigen Foren und Gruppen gelesen, denen es ähnlich geht wie mir.
Aus der Sicht anderer mag das vielleicht hinkommen, dass man bisher gut durchs Leben gekommen ist. Aber weiß auch nur einer, wie man durchs Leben gekommen ist. Wie schwer einem vieles gefallen ist, wenn man selbst nie wusste, warum es so war? Gerade weil man ein autistisches Kind hat, sieht man sich teilweise darin wieder. Es kommen Erinnerungen von früher zum Vorschein, man macht sich Gedanken und findet wieder ein Puzzleteil, welches an die richtige Stelle gelegt werden könnte.
Nach der Diagnose hat mein Sohn Verhaltenstherapien erhalten und wir haben in den Eltern-Therapiestunden vieles erfahren dürfen. Einige Kinder erhalten heute aufgrund ihrer Diagnose eine Schulbegleitung, damit sie im Schulalltag etwas besser zurecht kommen, die Eltern kämpfen und machen sich stark für ihre Kinder und versuchen damit, ihren Kindern das Leben etwas zu erleichtern und lernen selbst daraus. Sie gehen in Selbsthilfegruppen und speziellen Autisten-Foren zwecks Erfahrungsaustausch. All das gab es früher nicht. Man musste also irgendwie zurecht kommen und funktionieren. Eine Diagnose hätte wohl früher auch nicht den gleichen Effekt gehabt, wie es heute bei unseren Kindern ist. Die Zeiten ändern sich und von daher ist eine Diagnose heute keine „Modeerscheinung“ oder man ist kein „Trittbrettfahrer“, nur weil man mit dem Wissen von Heute  anders und besser damit umgehen kann.
Ich hatte die meiste Zeit in meinem Leben immer jemanden an meiner Seite, der mir bei meinen „Schwierigkeiten“ unbewusst geholfen hat. Anfangs waren es meine Brüder, durch die ich immer beschützt wurde oder meine Cousine, die mir in der Schule zur Seite stand. Auch meine beste Freundin aus Schulzeiten. Sie saß im Unterricht nehmen mir und bot mir Sicherheit, im Unterricht und in den Pausen. Sie begleitete mich durch meine gesamte Schulzeit und auch hinterher noch eine lange Zeit. Wir wurden auch zur gleichen Zeit schwanger und so hatte ich sogar in der Klinik eine vertraute Zimmernachbarin, die mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Auch meine Mutter spielte eine wichtige Rolle in meinem Leben. Sie nahm mir Arbeiten ab, die mich teilweise überforderten. War mein Kind krank und musste zum Arzt, so war sie immer dabei. Auch Veranstaltungen im Kindergarten oder in der Schule, sie begleitete mich in dieser für mich schweren Zeit. Spielplätze mochte ich überhaupt nicht, also ging sie mit meinem Kind dort hin und beide hatten ihren Spaß und ich konnte mich in dieser Zeit etwas zurückziehen. Auch bei den Einkäufen begleitete sie mich, sie war einfach immer da, wenn ich sie brauchte, ohne das wir auch nur einmal über meine Schwierigkeiten gesprochen haben. Vielleicht spürte sie oftmals meine Hilflosigkeit, aber sie sagte nie etwas. All dies geschah, ohne dass wir wussten, warum ich Schwierigkeiten in gewissen Lebenslagen hatten. Für meine Brüder, Cousine, beste Freundin oder meine Mutter waren diese Momente selbstverständlich oder „normal“ und ich hatte immer einen vertrauten Menschen an meiner Seite, der mir Sicherheit bot und mich unterstützte. Das habe ich früher aber nie so gesehen, aber ohne diese in meinem Leben wichtigen Menschen hätte ich es wohl nie geschafft.
Von all diesen mir wichtigen Menschen habe ich heute nur noch zu meiner Cousine Kontakt und sie weiß inzwischen auch über mein „anders sein“ Bescheid und unterstützt mich heute bewusst in vielen Lebenslagen. Gibt es wieder mal ein für mich schwieriges unüberwindbares Ereignis, so ist sie für mich da. Manchmal reicht es einfach aus, dass sie mir diesen gewissen Halt und die Sicherheit bietet. Wir sehen uns nicht mehr so oft, schließlich hat jeder seine eigene Familie. Aber sie ruft mich regelmäßig an, kommt mal kurz vorbei und fragt nach, wie es mir geht oder ob sie etwas erledigen kann. Ich melde mich nur bei ihr, wenn ich Hilfe benötige oder mal wieder einen Ratschlag brauche. Aber sie ist mir deswegen nicht böse, da sie ja nun weiß, warum ich mich nicht so oft bei ihr melde.
Im Alltag komme ich inzwischen gut zurecht, wird es mal schwieriger, so sind mein Mann und meine Cousine immer für mich da. Dieser Gedanke beruhigend ungemein und stärkt mich immer wieder. Auch habe ich zwischenzeitlich wieder eine gute Freundin vor Ort gefunden, dank einer Selbsthilfegruppe. Mit ihr kann ich inzwischen über alles Reden und auch sie übernimmt inzwischen Dinge für mich, die ich allein nicht schaffen würde. Freunde habe ich heute wesentlich mehr als früher. Aber die meisten meiner engen Freunde wohnen nicht vor Ort, so dass der meiste Kontakt nur telefonisch oder über Email stattfindet. Dennoch sind dies die wichtigsten Menschen in meinem Leben geworden, neben meiner Familie. Dafür an dieser Stelle auch noch einmal ein ganz dickes Dankeschön. Ohne Euch würde mir etwas ganz besonderes in meinem Leben fehlen.


Montag, 17. Juni 2013

Meine Schulzeit

Nun noch mal etwas zu meiner Schulzeit, die nicht wirklich aufregend war, aber bei mir nun doch immer wieder öfter in den Vordergrund meiner Gedanken rückt, gerade auch, weil ich parallelen zu meinem Sohn entdecke.

Ich gehörte zu der Sorte von Kindern, die unbedingt in die Schule wollten, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Einen anderen Sinn hatte die Schule für mich eigentlich nicht. Das ganze Zeremoniell der Einschulung verstand ich nicht, es flösste mir sogar Angst ein. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut. Da sollte ich mir morgens ein Kleidchen anziehen, damit ich auch wie ein richtiges kleines niedliches Schulmädchen aussah. Ich war ja eigentlich immer der Hosentyp und das ist auch bis heute so geblieben. In Kleidern fühlte ich mich nie wohl, aber als Mädchen musste ich halt hin und wieder in diese mir unbequeme Rolle schlüpfen. So auch an diesem Tag. Also gingen wir morgens los mit meinem neuen Ranzen auf dem Rücken, der mich ganz stolz machte und einer gefüllten Schultüte, die ich mit mir rumschleppen sollte. Es ging zur Kirche. Furchtbar, was sollte ich denn in der Kirche lernen? Ich mochte die Kirche nicht, auch sie flösste mir irgendwie Angst ein. Weihnachten ging ich immer gerne in die Kirche, das machte mir auch nichts aus, aber an diesem Tag wirkte sie so groß und ich fühlte mich so klein. Dann musste ich auch noch in der ersten Reihe sitzen, wie alle anderen Schulanfänger auch. Ich mochte es nie, wenn ich im Mittelpunkt stand, und dies war wieder so ein Tag, ein besonderer Tag, in dem man im Mittelpunkt stand, nur damit man endlich in die Schule durfte. Am Ende des Gottesdienstes erhielten alle Schulanfänger noch leuchtende orange-farbende Kopfbedeckungen. Das fand ich cool, bis zu dem Moment, als ich meine Kopfbedeckung erhielt. Die Jungs erhielten alle ein Cap und wir Mädchen ein Kopftuch. Aber ich wollte auch ein Cap und nicht so ein doofes Kopftuch. Der Schuleinstieg fing ja gut an, ich war enttäuscht.
Der erste Schultag war sowieso total enttäuschend. Ich kam zwar mit zwei Kindern in eine Klasse, die ich aus meiner Nachbarschaft kannte und die Lehrerin schien auch sehr nett zu sein, ansonsten war aber alles sehr chaotisch an diesem Tag. Ich lernte ja nichts. Alle anderen freuten sich bei, schließlich wurde in der Schule gefeiert, es gab die Schultüten und wir mussten uns für ein Foto aufstellen. Alles Dinge, die ich nicht mochte, aber über mich ergehen lassen mussten, wie noch vieles mehr in dieser Schulzeit. Ich war die kleinste in meiner Klasse und wurde schon früh deswegen immer wieder aufgezogen. Hinzu kam meine ruhige Art, ich sagte ja auch kaum etwas. Alle hatten schon ihre Freunde gefunden, nur ich nicht. Außer unseren Nachbarsjungen gab es für mich niemanden in der Klasse, der mal mit mir sprach. Ich schreckte jedes Mal zusammen, wenn die Lehrerin meinen Namen aufrief, damit ich auch mal etwas sagen sollte, da meine mündliche Beteiligung sehr zu wünschen übrig lies. Aber ich bekam kaum einen Ton raus. Dies änderte sich auch in den nächsten Jahren nicht. Mündliche Beteiligung war bei mir gleich null.
In der 2. Klasse kam dann ein neues Mädchen in unsere Klasse. Diese kannte ich schon, da sie in die Nachbarschaft meiner Cousine gezogen war. Ich mochte dieses Mädchen auf Anhieb und sie mich wohl auch. Sie wurde meine beste und einzige Freundin, die ich während meiner gesamten Schulzeit hatte. Sie war auch meine Motivation, warum ich mich nach der Grundschulzeit weigerte, auf eine höhere Schule zu gehen. Ich setzte mich gegen meine Eltern durch und blieb auf dieser Schule, die auch einen Hauptschulzweig hatte. Das es nicht nur an dieser Freundin lag, sondern wohl auch an meinen Ängsten, mich an einer anderen Schule wieder neu orientieren zu müssen, das sah ich in diesem Moment ja noch nicht.
Sport war für mich die schlimmste Unterrichtsstunde. Leichtathletik mochte ich relativ gern, aber leider machten wir dies immer relativ selten, halt nur, wenn wieder im Sommer Bundesjugendspiele angesagt waren und wir uns dafür mächtig ins Zeug legen mussten. Ich schaffte es auch immer, eine Urkunde in Leichtathletik mit nach Hause zu bringen. Laufen war mein Ding. Während ich lief, war ich für mich allein, ich sah niemanden anderes um mich herum und ich lief und lief und lief und kam immer mit als erstes ans Ziel. Im Nachhinein erinnert mich mein Laufen immer an Forrest Gump. Ich höre immer wieder diese Stimme: „Lauf Forrest Lauf!“ – Es war mir auch egal, ob wir Marathon liefen, oder Kurzsprint oder sogar Hürdenlauf, Hauptsache ich konnte laufen. Aber leider hatte der Sport nicht nur mit Laufen zu tun. Geräteturnen fand ich noch schlimmer, als die Spiele, die wir immer nach dem Turnunterricht noch machten. Wenn es um Mannschaften auswählen ging. Ich wurde immer als letzte in ein Team gewählt. Ausnahmen gab es nur, wenn meine Freundin mal ein Team auswählen durfte, sie nahm mich immer sofort in ihr Team mit auf. Schlimm fand ich auch immer die Akustik, die eine Sporthalle so mit sich brachte, wenn mehrere Menschen sich darin befanden. Von daher kann ich momentan die Situation meines Sohnes sehr gut nachempfinden, denn er macht dies auch gerade durch. Nur mit dem Unterschied, das er wesentlich beliebter in der Schule ist, als ich es je war.

Pausen waren auch so eine Horrorvorstellung für mich. Das erste Schuljahr war das schlimmste, aber das habe ich ja schon einmal in einem vorherigen Posting geschrieben. Oftmals drückte ich mich in den Pausen, in dem ich „wichtige“ Aufgaben übernahm, die nicht unbedingt beliebt in der Schule waren. Aber so hatte ich die Möglichkeit, mich in den Pausen „zurückzuziehen“. Ich übernahm also den Schülerlotsendienst, oder was noch langweiliger für alle war, ich bewachte den „Kartenraum“. In diesem Raum wurden die ganzen Landkarten verstaut und in den Pausen brachten die Schüler diese Riesenkarten immer wieder zurück bzw. liehen sich diese für die nächste Unterrichtsstunde aus. Ich übergab also immer diese Karten bzw. ordnete sie bei Rückgabe wieder ein und notierte die Daten für den Verleih. Ich absolvierte diese Aufgabe mit einer solchen Gewissheit, dass ich es die ganzen Schuljahre hindurch machen durfte und es zu „meinem Raum“ wurde.  

Den Schulstoff bekam ich gut mit. Dies bereitete mir weniger Schwierigkeiten. Besonders leicht fielen mir die Fächer bzw. der Unterrichtsstoff, der mich interessierte. Aber auch bei den anderen Fächern blieb ich immer im guten Notendurchschnitt. Die Lehrer hatten auch nichts an meinen Arbeiten zu bemängeln, sie wollten mich nur mündlich immer aus der Reserve locken, auch mit Androhungen, wenn ich mich nicht besser mündlich einbringe, würde sich das auf dem Zeugnis bei den Zensuren bemerkbar machen. Und so endete es letztendlich auch, aufgrund meiner mündlichen Verweigerung erhielt ich auf dem Zeugnis immer eine Zensur schlechter.
Die erste Klassenfahrt (welche ich eigentlich gar nicht mitmachen wollte – schließlich durfte meine Freundin daran auch nicht teilnehmen) war auch so ein einschneidendes Erlebnis. Ich konnte mich nicht eingewöhnen, alles war neu, dazu fuhren wir auch noch mit einer zweiten Klasse gemeinsam und die Zimmer waren immer mit 6-8 Schülern zu belegen. Ich war total überfordert. Hatte keine Rückzugsmöglichkeit, keine Ruhe. Es war Stress pur. Während dieser Klassenfahrt musste ich aber dennoch hin und wieder mal herzlich lachen, weil eine Mitschülerin eine herrliche Anekdote erzählte. Ich lachte dermaßen lauf und fand gar kein Ende mehr. Dies fiel auch den Lehrern auf und sie mussten sofort einen für mich dummen Spruch abgeben. Ein Lehrer meinte: „Oh, unsere ... kann ja sogar herzlich lachen und auch reden“. Das haben sie danach wohl nicht mehr bei mir erlebt :-)

Die Schulzeit neigte sich nach der 9. Klasse dem Ende zu und ich musste mich nun entscheiden, wie es weiter gehen soll. Eine Ausbildung kam für mich nicht in Frage, was sollte ich denn werden mit einem qualifizierten Hauptschulabschluss? Eine Verkäuferin, die kaum ein Wort herausbrachte oder eine Friseuse, die mit ihren Kunden nicht kommunizieren konnte/wollte? Nein, das war nicht mein Ziel. Also sprang ich über meinen Schatten und wechselte doch noch auf eine höhere Schule, um zumindest meine mittlere Reife zu erhalten. Dies war natürlich ein großer Fehler. Denn in nur einem Jahr an einer mir vollkommen fremden Schule, mit fremden Mitschülern und fremden Lehrern. Bis ich mich einigermaßen an all diese neuen Umstände gewöhnt hatte, standen auch schon die Prüfungen an. In dieser Zeit hatte ich auch einen gesundheitlichen Aussetzer und fehlte 6 Wochen in der Schule. Meine Noten in diesem Jahr haben alle einen Sprung nach unten gemacht, dennoch sollte eine Vorprüfung bei mir entscheiden, ob ich zum Kolloquium zugelassen werde. Ich versemmelte diese Vorprüfung in Mathe, da meine Lehrerin natürlich nur Aufgaben von mir abverlangte, die ich in meinen versäumten 6 Wochen nicht mitbekam. Die Punkte in allen anderen Prüfungsfächern waren ausreichend, damit ich zugelassen werde, aber diese Arbeit in Mathe hat mich daran gehindert und so sollte ich die Schule verlassen ohne den Abschluss, den ich gebraucht hätte, um an der in dieser Schule angelehnten Gymnasialstufe mich auf mein Abitur vorzubereiten.
Meine Enttäuschung saß tief. Was sollte ich nun machen? Der Arbeitswelt wollte ich eigentlich noch nicht zur Verfügung stehen, es sei denn, ich hätte einen Beruf wählen dürfen, der mir Spaß gemacht hätte und wofür mein Abschluss ausreichend wäre. Aber das durfte ich nicht. Mein Traum war es, in einen damals noch typischen Männerberuf einzusteigen. Ich wollte in eine Tischlerei. Aber das ließ mein Vater nicht zu und so besorgte er mir einen Ausbildungsplatz in einer Anwaltskanzlei. Da gehörten Frauen schließlich auch hin und nicht in ein Handwerk, das nur der Männerwelt zur Verfügung zu stehen hat.
Als der letzte Schultag anstand und allen Schülern feierlich die Schulabschluss-Urkunde überreicht wurde, war mir sehr mulmig zu mute. Rechnete ich doch damit, dass ich die einzige war, die den Abschluss nicht geschafft hatte und somit eventuell auch nicht aufgerufen wird zur Übergabe. Das wiederum hätte mich nicht so gestört, aber die Vorstellung, dass alle tuschelten, weil ich als einzige bei der Übergabe sitzen bleibe, verursachte wieder dieses mulmige Gefühl in der Magengegend. Ich wollte nicht, dass man mich als Looser ansah. Aber auch ich wurde aufgerufen und man Übergab mir mit Gratulationswünschen das Zeugnis. Dieses Zeugnis ignorierte ich komplett, wusste ich ja, dass es „nur“ ein normales Zeugnis war, schließlich konnte ich am Kolloquium ja nicht teilnehmen und somit war die Übergabe bei mir nur ein weiteres Übel. Aber ich war froh, dass man mir dieses Zeugnis genau so überreichte, wie den anderen und ich somit nicht zur „Nullnummer“ bzw. zum Looser auserkoren wurde.
Wenige Tage nach der Zeugnisübergabe brachte ich eine Kopie zu meiner neuen Ausbildungsstelle, damit ich meinen Ausbildungsvertrag unterzeichnen konnte, den meine Eltern ja auch gegenzeichnen mussten, da ich noch nicht volljährig war. In diesem Vertrag stand drin, dass die Ausbildungszeit zweieinhalb Jahre andauert und ich dann nach erfolgreicher Prüfung Rechtsanwalts- und Notargehilfin* bin. Dies korrigierte ich mündlich, in dem ich sagte, dass ich drei Jahre lernen müsse, da ich ja „nur“ einen Hauptschulabschluss habe. Mein zukünftige Chefin schaute sich daraufhin mein Zeugnis an und meinte nur: „Aber sie haben doch die mittlere Reife!“ – Ich sagte nichts weiter und versuchte nur ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Meine Eltern und meine zukünftige Chefin unterschrieben den Vertrag und wir gingen wieder nach Hause. Ich wiederum mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Zuhause schaute ich mir mein Zeugnis genauer an. Mir wurde ein „falsches“ Zeugnis ausgestellt. Ohne durch die Prüfungen gegangen zu sein, hatte ich meine mittlere Reife erhalten. Dieser Fehler war der Schule wohl irrtümlich unterlaufen, aber ich habe es nie korrigieren lassen. Schließlich war es das mindeste, was ich auf schulischer Ebene auch verdient habe. Es war der Abschluss, den ich auch erreicht hätte, wenn meine Mathelehrerin mir nicht diese fatalen Aufgaben gestellt hätte. Von daher fand ich in diesem fälschlicherweise ausgestellten Zeugnis eine Art Wiedergutmachung. Für eine Anmeldung in den Gymnasialzweig war es eh schon zu spät, also musste ich notgedrungen diesen für mich ungewollten Beruf erlernen.


* Nach Umstellung der Bezeichnung erhielt ich Jahre später auch eine neue Urkunde, in dem nun als Berufsbezeichnung steht: Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte, damals wurde die Bezeichnung „Gehilfe“ noch sehr häufig benutzt.


Sonntag, 9. Juni 2013

Meine Hände suchen Beschäftigung

Ich habe letztens in einem Forum die Frage einer Mutter gelesen:
„Warum müssen Autisten immer Gegenstände in der Hand halten?“
Jetzt weiß ich nicht genau, ob das wirklich so ist, und ob dies überhaupt etwas mit Autismus zu tun hat, aber bei mir würde dies 1000% zutreffen.
Ich habe sehr lange über diese Frage nachgedacht und sie will einfach nicht mehr aus meinen Gedanken verschwinden. Es ist gerade wie ein Ohrwurm. Immer wieder stelle ich mir diese Frage.  Ich beobachte mich selbst und stelle fest: Ja, ich habe ständig etwas in den Händen. Meine Hände suchen immer nach Beschäftigung.
Es gibt keinen Moment, weder am Tage, noch in der Nacht, das ich keinen Gegenstand in der Hand halte. Es war mir aber auch nie wirklich bewusst, das es so ist bzw. es ist mir noch gar nicht aufgefallen, aber ohne geht gar nicht.
Bin ich zu Fuß unterwegs, so habe ich immer meinen Schlüsselbund in der Hand bzw. habe meine Hand in der Jackentasche und spiele dann mit diesem Schlüsselbund, im Herbst ist es eine Kastanie, die mich in meiner Jackentasche begleitet und mit der ich dann herumspiele. Das habe ich schon immer gemacht und es gibt mir Sicherheit. Ich fühle mich wesentlich sicherer, wenn ich etwas in der Hand halte. Auch beim Telefonieren ist es so. Da ist ein Kugelschreiber mein ständiger Begleiter. Ich muss mir nicht unbedingt etwas während des Telefonates notieren, aber ich halte ihn einfach fest. Obwohl ich ja schon den Hörer in der einen Hand halte, benötigt meine andere Hand dann noch einen Gegenstand, der mir Sicherheit bietet. Wenn ich länger darüber nachdenke, so ist jeder Moment, in dem ich nicht irgendeiner Tätigkeit nachgehe, in der ich eh schon etwas in der Hand halte, wirklich immer irgendetwas, mit dem meine Hände beschäftigt sein müssen. Selbst in der Nacht….da liegt von meinem Sohn immer ein kleiner Teddy in meinem Bett. Er gab ihn mir einmal und sagte, dieser solle mich nachts vor schlimmen Träumen beschützen. Also halte ich diesen kleinen Teddy nachts in meiner Hand. Bisher habe ich es mir immer so erklärt, dass ich mit diesem Teddy einschlafe, da mein Sohn ihn mir ja dort hingelegt hat und dieser mich beschützen soll. Aber ist es nicht eher so, das mein Unterbewusstsein in diesen Momenten, in denen ich im Bett liege mir sagt, du benötigst Sicherheit. Also halte ich den kleinen Teddy fest in meiner Hand. Ich wache morgens auch immer so wieder auf. Normal hätte dieser Teddy ja im Bett liegen können und ich müsste ihm keine Beachtung schenken, aber dem ist ja nicht so.
Egal, wie lange ich jetzt darüber nachdenke und welche Situationen ich mir aus der Vergangenheit noch einmal vorstelle. Ich sehe mich nie mit leeren Händen. Sitze ich am PC, so halte ich die ganze Zeit die Maus fest, wenn ich nicht gerade etwas schreibe. Morgens laufe ich mit einer Tasse Kaffee durch die Gegend, wenn ich nicht gerade den Haushalt mache und in dem Moment sind die Hände ja beschäftigt.
Beim ersten Elternabend meines ältesten Sohnes brachte die Klassenlehrerin einen kleinen Stein mit. Diesen gab sie beim Elternabend herum und jeder, der etwas sagte, hielt in dieser Zeit den Stein und drehte ihn. Dafür war ich damals sehr dankbar. Nicht, weil meine Hände Beschäftigung suchten (dafür habe ich ja einen Stift beim Elternabend mit zum Notieren und diesen halte ich dann die ganze Zeit fest), sondern weil er mir beim Sprechen geholfen hat. Es fällt mir schwer vor vielen Menschen zu reden und ganz besonders vor vielen fremden Menschen. Dieser Stein gab mir in diesem Moment die Sicherheit.
Vielleicht bin ich schon sehr früh zum Raucher geworden, damit meine Hände etwas halten können. Denn es gab Zeiten, da wollte ich unbedingt mit dem Rauchen aufhören. In den Schwangerschaften war das für mich überhaupt kein Problem, aber während der grundlosen „Abgewöhnungszeit“ hatte ich da schon wesentlich mehr Schwierigkeiten. Oftmals erwischte ich mich mit einer Salzstange in der Hand, die mir wohl als „Ersatzzigarette“ diente. Man sagt ja, der Kopf muss frei und willig sein, damit man wirklich aufhören kann mit Rauchen. Bei mir ist es nicht ganz so, denn mein Kopf war frei und willig, aber nicht meine Hände. Ihnen fehlte diese routinierte immer wiederkehrende Beschäftigung. Also fing ich nach kurzen Abgewöhnungszeiten wieder mit dem Rauchen an. Bin ich gut beschäftigt, muss ich auch nicht Rauchen. Aber in Ruhephasen und Stresssituationen könnte ich eine nach der anderen rauchen. Aber das ist ja nun wieder ein anderes Thema, hier geht es ja um meine Hände. Hände, die einfach nicht zur Ruhe kommen wollen.
In besonderen Stresssituation beruhigt es mich einfach, wenn sich meine Hände beschäftigen können und dies geht meistens natürlich nur, wenn ich einen Gegenstand in der Hand halte. Schließlich kann man bei Veranstaltungen ja nicht ständig rumwuseln, damit man selber ruhiger wird. Da reicht mir schon der kleinste Gegenstand, der mir die Sicherheit bietet, die ich in diesem besonderen Moment brauche.
Abends vorm Fernseher ist es meistens die Fernbedienung, die ich dann festhalte. Aber wenn ich mit meinem Sohn gemeinsam fernsehe, dann muss ich ihm die Fernbedienung überlassen. Ich schnappe mir derweil das kleine Sofakissen, welches ich dann an meinen Körper drücke und festhalte. Wahrscheinlich geht es meinem Sohn mit den Händen genauso, aber das habe ich noch nicht so beobachtet. Bei meinem kleinen Autisten ist es leider eher so, das er an seinen Fingernägeln pult. Nachts im Bett macht er es mit den Füßen, da hat er sich auch schon zweimal den kompletten Zehnagel abgepult.

Momente, in denen keine Gegenstände greifbar sind, die gibt es auch. Dann spiele ich oftmals an meinen Ohrringen oder drehe meinen Ring, ziehe ihn ab und setze ihn wieder auf. Oder das Feuerzeug in meiner Tasche. Eigentlich findet sich immer etwas, meinen Händen wird wohl die langweilig, sie suchen einfach eine Beschäftigung und geben mir Sicherheit.