Samstag, 21. März 2015

Was soll nur aus mir werden?

Während der Schulzeit muss man sich ja schon einmal Gedanken machen, welchen Beruf man später erlernen und ausüben möchte.

Da ich ein sehr ruhiger und stiller Mensch bin und absolut nicht wortgewandt, musste es ein Beruf sein, bei dem ich nicht wirklich viel reden muss, zumindest nicht frei heraus.
In der 7. Klasse meldete ich mich in der Theater-AG an. Welcher Beruf hätte besser zu mir gepasst? Jeden Dialog, den ich sprechen werde, muss ich im Vorfeld auswendig lernen.  Texte auswendig lernen bereitete mir nie Probleme. Hier musste ich also richtig sein und schon einmal einen Vorgeschmack für den Berufsstart als Schauspielerin holen. Super, nie wieder Gedanken machen, womit ich eventuell ein Gespräch beginnen könnte, damit ich bei Unterhaltungen auch mal mitreden kann.
Ich bekam schnell die Hauptrolle von unserem ersten Theaterstück, da ich den Text recht zügig auswendig konnte und nur zwei weitere Teilnehmer der Gruppe sich für diesen Part beworben hatten. Das Theaterstück war ein voller Erfolg bei der Premiere in der Schule und schnell erhielten wir Einladungen zu weiteren Aufführungen. Nach der Premiere wurde ich als Hauptdarstellerin noch zu dem Stück befragt und ich musste/sollte vor dem Publikum frei heraus antworten. Das hat mir keiner im Vorfeld gesagt und so stand ich mal wieder wortlos auf der Bühne und bekam nur Wortfetzen ohne wirklichen Zusammenhalt raus. Ich spürte, wie mir der Schweiß runter lief, verspürte eine eisige Kälte, die mir am Körper entgegenschlug und die Stimmen hörte ich plötzlich nur noch aus weiter Ferne. Der Applaus riss mich für kurze Zeit wieder in die momentane Situation und ich sah, dass die ersten Besucher von ihren Stühlen aufstanden. Das war für mich das Zeichen, ebenfalls schnell das Weite zu suchen. Mein erster Gang war zu den Toilettenräumen. Ich war kurz davor, dass sich alles um mich herum drehte und ich hatte in der Vergangenheit gelernt, das ich mir erst einmal kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen lassen muss, damit mein Kreislauf wieder etwas in Wallung gerät. Oft habe ich diesen Gang nicht mehr geschafft und bin an Ort und Stelle einfach umgekippt. Wenn ich dies alles heute Revue passieren lasse, dann denke ich mal, das ich in diesen Momenten sehr oft einen Overload hatte. Nur wusste ich es zur damaligen Zeit nicht.
Ich trat mit der Theatergruppe noch drei weitere Male auf Veranstaltungen auf und jedes Mal musste ich im Anschluss noch Fragen beantworten. In diesen Momenten spürte ich, dass die Schauspielerei und die Theatergruppe doch nicht das richtige für mich war. Es waren zu viele Menschen an einem Ort, die Luft war unangenehm, meistens sehr drückend und ich musste jedes Mal auch noch eigene Worte mit einbringen. Somit verwarf ich den Gedanken an diesen Berufswunsch und suchte weiter.

Ein weiterer Beruf, der für mich in Frage kommen könnte, war die Schriftstellerei. Im TV lief gerade „Die Waltons“ und John-Boy schrieb ja täglich an den Lebensgeschichten seiner Familie. Auch konnte ich mich sehr oft in seine Gedankenwelt hineinversetzen. Aber was oder worüber könnte ich schreiben, damit meine Geschichten bzw. Bücher auch gekauft und gelesen werden? In meiner Familie gab es nicht so viele aufregende Dinge, wie bei den Waltons und Fantasie hatte ich irgendwie keine. So konnte ich mir keine Geschichten einfach ausdenken. Nach dem ersten Versuch einer von mir geschriebenen Liebesgeschichte aus der Sicht eines Teenagers hörte ich auch damit wieder auf. Ich hatte die Geschichte an einen Verlag geschickt und bekam kurze Zeit später mein Manuskript wieder zurück mit dem Hinweis, das eine Liebesgeschichte meistens ein“ happy-end“ hat und meine Geschichte war von Anfang bis Ende aus der Sicht eines sehr traurigen Teenagers geschrieben. Ich sollte mich später noch einmal melden, da der Ansatz der Schreiberei sehr viel versprechend sei, aber der Inhalt mehr Fantasie und Einfühlungsvermögen benötigte.

Langsam war ich mit meinem Latein am Ende, aber die Zeit drängte, denn ich musste anfangen mit Bewerbungen schreiben. Aber wo sollte ich mich bewerben? Und vor allem als was? Ich nahm beim Schulprojekt auch an einem Vorbereitungskurz für Berufseinsteiger teil und nach der Auswertung des Fragebogens hatte ich die meiste Punktzahl als Friseur. Hilfe, da musste man doch den ganzen Tag wildfremden Menschen am Kopf rumfuchteln, ständig mit den Kunden reden und dann diese vielen Spiegel. Überall müsste ich mich den ganzen Tag selber sehen und ertragen. Dieser Berufseinstiegstest ging bei mir voll daneben.

Ich versuchte mein Glück mit der Malerei. Mein Onkel baute mir eine Staffel und zum Geburtstag wünschte ich mir Leinwand, Ölfarben und Zubehör. Beim Malen verbringt man auch sehr viel Zeit mit sich allein. Das musste bzw. sollte es nun sein.
Aber noch bevor ich meine Malereiutensilien alle beisammen hatte und ich mir Gedanken machen konnte, was ich denn nun auf die Leinwand bringen könnte, war die Schulentlassung und ich konnte noch immer nichts vorweisen.
Die Freundin meines Bruders arbeitete beim Rechtsanwalt und diese Kanzlei suchte gerade eine Auszubildende. Mein Vater war begeistert und der Meinung, genau das richtige für mich. Da ich mich selten der Entscheidung meiner Eltern widersetzte und auch nichts Besseres wusste, versuchte ich mein Glück. Ich bekam die Ausbildungsstelle durch Vitamin B und durchlebte nun die fast schwersten Jahre. Die Ausbildung war für mich eines der schlimmsten Erfahrungen, die ich bis dato gemacht hatte. Von wegen Büroarbeit. Ich musste sehr viel Botengänge erledigen, kam immer wieder mit mir völlig fremden Menschen in Kontakt, fand keinen Anschluss in der Berufsschule unter meinen Mitschülern und eine meiner beiden Kolleginnen war der Teufel in Person. Sie ließ kein gutes Haar an mir und war
ständig damit beschäftigt, mich zu schikanieren und herumzuscheuchen.  Da wir nicht wirklich viel zu tun hatten, wurde ich zwecks Beschäftigung in ein anderes Unternehmen geschickt, wo ich Büroarbeiten erlernte, die aber nichts mit meinem zukünftigen Beruf zu tun hatten. So verbrachte ich fast 9 Monate in der Handwerkskammer und ein weiteres Jahr in einem Bauunternehmen im Büro. Ich erlernte meinen Beruf eigentlich nur in der Theorie in der Berufsschule und zwischendurch mal in der Kanzlei, wenn es wieder etwas zu tun gab.
Als die Abschlussprüfung nahte, spürte ich wieder stark zunehmende Nervosität. Zur Prüfung musste ich an eine mir fremde Berufsschule fahren, in einer fremden Stadt unter fremden Menschen.
Die Prüfung fand an einem kalten Januartag statt. Ich traf mich mit fünf weiteren Mitschülern am Bahnhof, damit wir gemeinsam in die 30-Kilometer entfernte Berufsschule fahren konnten.   Unterwegs der erste Schreck. Die Gleise waren vereist und wir wurden umgeleitet. Prüfungsbeginn war um 08.30 Uhr und zu dieser Zeit befanden wir uns noch immer auf halber Strecke auf einem fremden Bahnhof gut 20 Kilometer vom Ziel entfernt. Wir kamen um 10 Uhr in der Schule an und da die Prüfungen bereits begonnen hatten, wurden wir erst einmal separat in ein Klassenzimmer geleitet, wo wir keinen Kontakt zu den anderen Prüflingen haben dürften. Nach der Pause wurden wir mit in das Prüfungszimmer gebracht und mussten nun an der restlichen Prüfung teilnehmen. Während der Pausen wurden wir immer wieder separat untergebracht. Als die Prüfung regulär vorbei war, mussten wir die Anfangsprüfungen nachholen und während dieser Zeit verspürte ich wieder diesen Prozess in mir, als würde ich nicht wirklich anwesend sein. Stimmen hörte ich nur aus weiter Ferne, Schweiß lief mir von der Stirn, Kälte durchzog meinen Körper, mir wurde Schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, war die Prüfung vorbei und ich, wie sollte es auch anders sein, bei drei fehlenden Fächern, durchgefallen. Trotz alledem musste ich zwei Wochen später noch einmal zur mündlichen Prüfung erscheinen, den Zweck habe ich nicht verstanden, aber da ich immer alles so machte, wie es andere gerne hätten, war ich auch diesmal wieder ordnungsgemäß zur Stelle. Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren, also konnte ich vollkommen frei von Ängsten in diese mündliche Prüfung, in der ich sowieso kein Wort herausbringen würde.
Die mündliche Prüfung verlief vollkommen anders ab, als ich es mir vorgestellt habe. Es mussten immer drei Prüflinge gleichzeitig hinein und sich vor dem Prüfungsausschuss hinsetzen. Ich erhielt sofort eine Frage und die Antwort schoss sofort aus mir heraus. Ich war total über mich selbst erschrocken. So ging es noch bei zwei weiteren Fragen und dann war die Zeit auch schon um. Nachdem alle Auszubildenden die mündliche Prüfung geschafft hatten, wurde noch einmal jeder einzeln hereingerufen. Natürlich erhielt ich ein Schriftstück, in dem drauf stand, dass ich die Prüfung nicht geschafft habe, aber für die mündliche Prüfung erhielt ich immerhin noch eine Note 2.
Mein Chef versuchte am nächsten Tag aufgrund meines Zusammenbruchs bei der Prüfungskommission eine Sonderregelung zu erteilen, damit ich die Prüfung schnellstmöglich nachholen konnte, anstatt regulär nach sechs Monaten. Dies wurde aber abgelehnt und so musste ich weitere 6 Monate in dieser Kanzlei bzw. bei dem Baustoffunternehmen arbeiten und kam in der Berufsschulklasse wieder mit neuen Mitschülern zusammen.
Die Nachprüfung schaffte ich diesmal ohne Schwierigkeiten, da ich die Pausen dazu nutzte, mich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen und zu regenerieren, anstatt mit den anderen Prüflingen gemeinsam auf dem Pausenhof über die Prüfungsfragen zu diskutieren.

Vom Arbeitsamt wurde ich drei Monate nach meiner Prüfung in eine andere Rechtsanwaltskanzlei vermittelt. Beim Vorstellungsgespräch wurde mir zuerst die Frage gestellt, warum ich mich bei ihnen beworben habe. Da ich, wenn ich denn mal die richtigen Worte finde, wahrheitsgetreu antwortete, sprudelte es ohne lange nachzudenken einfach aus mir raus: „Ich habe mich ja nicht aus freien Stücken beworben, ich wurde hierher vermittelt“. Sie suchten eine Notarfachangestellte und befragten mich, was ich im Notariat alles während meiner Ausbildungszeit gelernt habe. Wieder antwortete ich ganz ehrlich mit „Nur Urkunden nähen“. Ich hatte nicht vor, dort anzufangen und musste von daher auch nicht lange nach Worten suchen, damit ich nicht falsch antwortete. Ich glaubte nach dem Vorstellungsgespräch, das ich diesen Ort nicht noch einmal wieder sehen müsste und ging gut gelaunt nach Hause. Am nächsten Tag erhielt ich den Anruf, dass ich zum 01.06. anfangen könnte. Da es bis zu diesem Termin noch etwas hin war, fing ich an, weitere Bewerbungen zu schreiben. Büroarbeit machte mir inzwischen Spaß, aber ich brauchte Ruhe zum arbeiten und in einem Großraumbüro war ich nicht richtig aufgehoben. Von daher suchte ich nach einem Job mit wenig Kollegen. Ich fand nichts und begann am 01.06.  in dieser Kanzlei an zu arbeiten. Nach drei Jahren in dieser Kanzlei wurde ich das erste Mal schwanger. Nach einer 15-monatigen Elternzeit ging ich wieder zurück in die Kanzlei und arbeitete von da an halbtags weiter.  Ich hatte in dieser Kanzlei zwei Chefs und diese verstanden sich zunehmend schlechter. Sie wollten sich trennen und so wurde ich gefragt, ob ich mir einen Neuanfang in einem anderen Büro vorstellen könnte. Konnte ich natürlich nicht, aber da mein Vorgesetzter und meine Kollegin, mit der ich mich in der Zwischenzeit angefreundet hatte, ebenfalls mit ins neue Büro gingen, stand mein Entschluss fest und ich wechselte ebenfalls mit viel Bauchschmerzen vor dem neuen Unbekannten, was nun auf mich zukommen sollte. In der neuen Kanzlei blieb ich nun weitere 11 Jahre, bis mir aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt wurde. Es war genau der Zeitpunkt, in dem mein zweiter Sohn kurz vor seiner Diagnose stand und ich mit meinen Nerven eh schon am Ende war.
Ich habe lange gerechnet, ob wir ohne meinen Verdienst weiterhin gut auskommen und ich eventuell gar nicht mehr arbeiten gehen muss. Laut meiner Berechnung sah es gut aus und so entschloss ich mich, künftig nur noch für meine Familie da zu sein.

Aufgrund der Diagnose meines Sohnes machte ich mich nun langsam mit dem Thema Autismus vertraut und schneller als ich glaubte, war ich wieder im „Arbeitsleben“ drin. Ich übernahm ehrenamtlich einen Moderatorenjob in einem  Autismus-Forum und ein Jahr später gründete ich vor Ort eine eigene Selbsthilfegruppe für Eltern autistischer Kinder. Diese ehrenamtlichen Arbeiten bereiteten mir Freude und zum ersten Mal in meinem Leben machte ich Dinge, die ich mir selbst aussuchte. Da in unserem Forum immer wieder die Fragen auftauchten, warum es nur in Amerika Autismusschmuck gibt und ob jemand vielleicht noch Shops kennt, die günstiger sind, überlegte ich mir, eigenen Schmuck aus dem Bereich Autismus herzustellen. Ich fand ein neues Hobby und mein selbst hergestellter Schmuck fand schnell Anklang im Forum. Da ich es anfangs nur hobbymäßig ausübte, aber meine Ideen und die Nachfragen gar kein Ende nahmen, meldete ich ein Gewerbe an und fertige nun Bekenntnisschmuck an. Nach langer Zeit habe ich meine Familie, meine Interessen und meine Arbeit unter einen Hut bringen können und empfinde endlich Freude am Leben.

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