Während
der Schulzeit muss man sich ja schon einmal Gedanken machen, welchen Beruf man
später erlernen und ausüben möchte.
Da
ich ein sehr ruhiger und stiller Mensch bin und absolut nicht wortgewandt,
musste es ein Beruf sein, bei dem ich nicht wirklich viel reden muss, zumindest
nicht frei heraus.
In
der 7. Klasse meldete ich mich in der Theater-AG an. Welcher Beruf hätte besser
zu mir gepasst? Jeden Dialog, den ich sprechen werde, muss ich im Vorfeld
auswendig lernen. Texte auswendig lernen
bereitete mir nie Probleme. Hier musste ich also richtig sein und schon einmal
einen Vorgeschmack für den Berufsstart als Schauspielerin holen. Super, nie
wieder Gedanken machen, womit ich eventuell ein Gespräch beginnen könnte, damit
ich bei Unterhaltungen auch mal mitreden kann.
Ich
bekam schnell die Hauptrolle von unserem ersten Theaterstück, da ich den Text recht
zügig auswendig konnte und nur zwei weitere Teilnehmer der Gruppe sich für
diesen Part beworben hatten. Das Theaterstück war ein voller Erfolg bei der Premiere
in der Schule und schnell erhielten wir Einladungen zu weiteren Aufführungen.
Nach der Premiere wurde ich als Hauptdarstellerin noch zu dem Stück befragt und
ich musste/sollte vor dem Publikum frei heraus antworten. Das hat mir keiner im
Vorfeld gesagt und so stand ich mal wieder wortlos auf der Bühne und bekam nur
Wortfetzen ohne wirklichen Zusammenhalt raus. Ich spürte, wie mir der Schweiß
runter lief, verspürte eine eisige Kälte, die mir am Körper entgegenschlug und
die Stimmen hörte ich plötzlich nur noch aus weiter Ferne. Der Applaus riss
mich für kurze Zeit wieder in die momentane Situation und ich sah, dass die
ersten Besucher von ihren Stühlen aufstanden. Das war für mich das Zeichen,
ebenfalls schnell das Weite zu suchen. Mein erster Gang war zu den
Toilettenräumen. Ich war kurz davor, dass sich alles um mich herum drehte und
ich hatte in der Vergangenheit gelernt, das ich mir erst einmal kaltes Wasser
über meine Handgelenke laufen lassen muss, damit mein Kreislauf wieder etwas in
Wallung gerät. Oft habe ich diesen Gang nicht mehr geschafft und bin an Ort und
Stelle einfach umgekippt. Wenn ich dies alles heute Revue passieren lasse, dann
denke ich mal, das ich in diesen Momenten sehr oft einen Overload hatte. Nur
wusste ich es zur damaligen Zeit nicht.
Ich
trat mit der Theatergruppe noch drei weitere Male auf Veranstaltungen auf und
jedes Mal musste ich im Anschluss noch Fragen beantworten. In diesen Momenten
spürte ich, dass die Schauspielerei und die Theatergruppe doch nicht das
richtige für mich war. Es waren zu viele Menschen an einem Ort, die Luft war
unangenehm, meistens sehr drückend und ich musste jedes Mal auch noch eigene
Worte mit einbringen. Somit verwarf ich den Gedanken an diesen Berufswunsch und
suchte weiter.
Ein
weiterer Beruf, der für mich in Frage kommen könnte, war die Schriftstellerei.
Im TV lief gerade „Die Waltons“ und John-Boy schrieb ja täglich an den
Lebensgeschichten seiner Familie. Auch konnte ich mich sehr oft in seine
Gedankenwelt hineinversetzen. Aber was oder worüber könnte ich schreiben, damit
meine Geschichten bzw. Bücher auch gekauft und gelesen werden? In meiner
Familie gab es nicht so viele aufregende Dinge, wie bei den Waltons und
Fantasie hatte ich irgendwie keine. So konnte ich mir keine Geschichten einfach
ausdenken. Nach dem ersten Versuch einer von mir geschriebenen Liebesgeschichte
aus der Sicht eines Teenagers hörte ich auch damit wieder auf. Ich hatte die
Geschichte an einen Verlag geschickt und bekam kurze Zeit später mein
Manuskript wieder zurück mit dem Hinweis, das eine Liebesgeschichte meistens
ein“ happy-end“ hat und meine Geschichte war von Anfang bis Ende aus der Sicht
eines sehr traurigen Teenagers geschrieben. Ich sollte mich später noch einmal
melden, da der Ansatz der Schreiberei sehr viel versprechend sei, aber der
Inhalt mehr Fantasie und Einfühlungsvermögen benötigte.
Langsam
war ich mit meinem Latein am Ende, aber die Zeit drängte, denn ich musste
anfangen mit Bewerbungen schreiben. Aber wo sollte ich mich bewerben? Und vor
allem als was? Ich nahm beim Schulprojekt auch an einem Vorbereitungskurz für
Berufseinsteiger teil und nach der Auswertung des Fragebogens hatte ich die
meiste Punktzahl als Friseur. Hilfe, da musste man doch den ganzen Tag
wildfremden Menschen am Kopf rumfuchteln, ständig mit den Kunden reden und dann
diese vielen Spiegel. Überall müsste ich mich den ganzen Tag selber sehen und
ertragen. Dieser Berufseinstiegstest ging bei mir voll daneben.
Ich
versuchte mein Glück mit der Malerei. Mein Onkel baute mir eine Staffel und zum
Geburtstag wünschte ich mir Leinwand, Ölfarben und Zubehör. Beim Malen
verbringt man auch sehr viel Zeit mit sich allein. Das musste bzw. sollte es
nun sein.
Aber
noch bevor ich meine Malereiutensilien alle beisammen hatte und ich mir Gedanken
machen konnte, was ich denn nun auf die Leinwand bringen könnte, war die
Schulentlassung und ich konnte noch immer nichts vorweisen.
Die
Freundin meines Bruders arbeitete beim Rechtsanwalt und diese Kanzlei suchte
gerade eine Auszubildende. Mein Vater war begeistert und der Meinung, genau das
richtige für mich. Da ich mich selten der Entscheidung meiner Eltern
widersetzte und auch nichts Besseres wusste, versuchte ich mein Glück. Ich
bekam die Ausbildungsstelle durch Vitamin B und durchlebte nun die fast
schwersten Jahre. Die Ausbildung war für mich eines der schlimmsten
Erfahrungen, die ich bis dato gemacht hatte. Von wegen Büroarbeit. Ich musste
sehr viel Botengänge erledigen, kam immer wieder mit mir völlig fremden
Menschen in Kontakt, fand keinen Anschluss in der Berufsschule unter meinen
Mitschülern und eine meiner beiden Kolleginnen war der Teufel in Person. Sie
ließ kein gutes Haar an mir und war
ständig
damit beschäftigt, mich zu schikanieren und herumzuscheuchen. Da wir nicht wirklich viel zu tun hatten,
wurde ich zwecks Beschäftigung in ein anderes Unternehmen geschickt, wo ich
Büroarbeiten erlernte, die aber nichts mit meinem zukünftigen Beruf zu tun
hatten. So verbrachte ich fast 9 Monate in der Handwerkskammer und ein weiteres
Jahr in einem Bauunternehmen im Büro. Ich erlernte meinen Beruf eigentlich nur
in der Theorie in der Berufsschule und zwischendurch mal in der Kanzlei, wenn
es wieder etwas zu tun gab.
Als
die Abschlussprüfung nahte, spürte ich wieder stark zunehmende Nervosität. Zur
Prüfung musste ich an eine mir fremde Berufsschule fahren, in einer fremden
Stadt unter fremden Menschen.
Die
Prüfung fand an einem kalten Januartag statt. Ich traf mich mit fünf weiteren
Mitschülern am Bahnhof, damit wir gemeinsam in die 30-Kilometer entfernte
Berufsschule fahren konnten. Unterwegs
der erste Schreck. Die Gleise waren vereist und wir wurden umgeleitet.
Prüfungsbeginn war um 08.30 Uhr und zu dieser Zeit befanden wir uns noch immer
auf halber Strecke auf einem fremden Bahnhof gut 20 Kilometer vom Ziel
entfernt. Wir kamen um 10 Uhr in der Schule an und da die Prüfungen bereits begonnen
hatten, wurden wir erst einmal separat in ein Klassenzimmer geleitet, wo wir
keinen Kontakt zu den anderen Prüflingen haben dürften. Nach der Pause wurden
wir mit in das Prüfungszimmer gebracht und mussten nun an der restlichen
Prüfung teilnehmen. Während der Pausen wurden wir immer wieder separat
untergebracht. Als die Prüfung regulär vorbei war, mussten wir die
Anfangsprüfungen nachholen und während dieser Zeit verspürte ich wieder diesen
Prozess in mir, als würde ich nicht wirklich anwesend sein. Stimmen hörte ich
nur aus weiter Ferne, Schweiß lief mir von der Stirn, Kälte durchzog meinen
Körper, mir wurde Schwarz vor Augen.
Als
ich wieder zu mir kam, war die Prüfung vorbei und ich, wie sollte es auch
anders sein, bei drei fehlenden Fächern, durchgefallen. Trotz alledem musste
ich zwei Wochen später noch einmal zur mündlichen Prüfung erscheinen, den Zweck
habe ich nicht verstanden, aber da ich immer alles so machte, wie es andere
gerne hätten, war ich auch diesmal wieder ordnungsgemäß zur Stelle. Ich hatte
ja nichts mehr zu verlieren, also konnte ich vollkommen frei von Ängsten in
diese mündliche Prüfung, in der ich sowieso kein Wort herausbringen würde.
Die
mündliche Prüfung verlief vollkommen anders ab, als ich es mir vorgestellt
habe. Es mussten immer drei Prüflinge gleichzeitig hinein und sich vor dem
Prüfungsausschuss hinsetzen. Ich erhielt sofort eine Frage und die Antwort
schoss sofort aus mir heraus. Ich war total über mich selbst erschrocken. So
ging es noch bei zwei weiteren Fragen und dann war die Zeit auch schon um.
Nachdem alle Auszubildenden die mündliche Prüfung geschafft hatten, wurde noch
einmal jeder einzeln hereingerufen. Natürlich erhielt ich ein Schriftstück, in
dem drauf stand, dass ich die Prüfung nicht geschafft habe, aber für die
mündliche Prüfung erhielt ich immerhin noch eine Note 2.
Mein
Chef versuchte am nächsten Tag aufgrund meines Zusammenbruchs bei der
Prüfungskommission eine Sonderregelung zu erteilen, damit ich die Prüfung
schnellstmöglich nachholen konnte, anstatt regulär nach sechs Monaten. Dies
wurde aber abgelehnt und so musste ich weitere 6 Monate in dieser Kanzlei bzw.
bei dem Baustoffunternehmen arbeiten und kam in der Berufsschulklasse wieder
mit neuen Mitschülern zusammen.
Die
Nachprüfung schaffte ich diesmal ohne Schwierigkeiten, da ich die Pausen dazu
nutzte, mich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen und zu regenerieren, anstatt
mit den anderen Prüflingen gemeinsam auf dem Pausenhof über die Prüfungsfragen
zu diskutieren.
Vom
Arbeitsamt wurde ich drei Monate nach meiner Prüfung in eine andere
Rechtsanwaltskanzlei vermittelt. Beim Vorstellungsgespräch wurde mir zuerst die
Frage gestellt, warum ich mich bei ihnen beworben habe. Da ich, wenn ich denn
mal die richtigen Worte finde, wahrheitsgetreu antwortete, sprudelte es ohne
lange nachzudenken einfach aus mir raus: „Ich habe mich ja nicht aus freien
Stücken beworben, ich wurde hierher vermittelt“. Sie suchten eine
Notarfachangestellte und befragten mich, was ich im Notariat alles während
meiner Ausbildungszeit gelernt habe. Wieder antwortete ich ganz ehrlich mit
„Nur Urkunden nähen“. Ich hatte nicht vor, dort anzufangen und musste von daher
auch nicht lange nach Worten suchen, damit ich nicht falsch antwortete. Ich
glaubte nach dem Vorstellungsgespräch, das ich diesen Ort nicht noch einmal
wieder sehen müsste und ging gut gelaunt nach Hause. Am nächsten Tag erhielt
ich den Anruf, dass ich zum 01.06. anfangen könnte. Da es bis zu diesem Termin
noch etwas hin war, fing ich an, weitere Bewerbungen zu schreiben. Büroarbeit
machte mir inzwischen Spaß, aber ich brauchte Ruhe zum arbeiten und in einem
Großraumbüro war ich nicht richtig aufgehoben. Von daher suchte ich nach einem
Job mit wenig Kollegen. Ich fand nichts und begann am 01.06. in dieser Kanzlei an zu arbeiten. Nach drei
Jahren in dieser Kanzlei wurde ich das erste Mal schwanger. Nach einer
15-monatigen Elternzeit ging ich wieder zurück in die Kanzlei und arbeitete von
da an halbtags weiter. Ich hatte in
dieser Kanzlei zwei Chefs und diese verstanden sich zunehmend schlechter. Sie
wollten sich trennen und so wurde ich gefragt, ob ich mir einen Neuanfang in
einem anderen Büro vorstellen könnte. Konnte ich natürlich nicht, aber da mein
Vorgesetzter und meine Kollegin, mit der ich mich in der Zwischenzeit
angefreundet hatte, ebenfalls mit ins neue Büro gingen, stand mein Entschluss
fest und ich wechselte ebenfalls mit viel Bauchschmerzen vor dem neuen
Unbekannten, was nun auf mich zukommen sollte. In der neuen Kanzlei blieb ich
nun weitere 11 Jahre, bis mir aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt wurde. Es
war genau der Zeitpunkt, in dem mein zweiter Sohn kurz vor seiner Diagnose
stand und ich mit meinen Nerven eh schon am Ende war.
Ich
habe lange gerechnet, ob wir ohne meinen Verdienst weiterhin gut auskommen und
ich eventuell gar nicht mehr arbeiten gehen muss. Laut meiner Berechnung sah es
gut aus und so entschloss ich mich, künftig nur noch für meine Familie da zu
sein.
Aufgrund
der Diagnose meines Sohnes machte ich mich nun langsam mit dem Thema Autismus
vertraut und schneller als ich glaubte, war ich wieder im „Arbeitsleben“ drin.
Ich übernahm ehrenamtlich einen Moderatorenjob in einem Autismus-Forum und ein Jahr später gründete
ich vor Ort eine eigene Selbsthilfegruppe für Eltern autistischer Kinder. Diese
ehrenamtlichen Arbeiten bereiteten mir Freude und zum ersten Mal in meinem
Leben machte ich Dinge, die ich mir selbst aussuchte. Da in unserem Forum immer
wieder die Fragen auftauchten, warum es nur in Amerika Autismusschmuck gibt und
ob jemand vielleicht noch Shops kennt, die günstiger sind, überlegte ich mir,
eigenen Schmuck aus dem Bereich Autismus herzustellen. Ich fand ein neues Hobby
und mein selbst hergestellter Schmuck fand schnell Anklang im Forum. Da ich es
anfangs nur hobbymäßig ausübte, aber meine Ideen und die Nachfragen gar kein
Ende nahmen, meldete ich ein Gewerbe an und fertige nun Bekenntnisschmuck an. Nach
langer Zeit habe ich meine Familie, meine Interessen und meine Arbeit unter
einen Hut bringen können und empfinde endlich Freude am Leben.
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